2. Mai 2000

INDIENS TIBET

Ein Fall zur Überprüfung der Politik
von Lhasang Tsering

Executive Director, Tibetan Alliance of Chicago, 4750 N Sheridan Rd Ste 469, Chicago IL 60640-5078, e-mail: tibetanalliance@msn.com

Das Thema dieses Artikels mit selbem Titel bildete die Grundlage eines Vortrages in dem Y.B. Chavan Zentrum in Mumbai am 17. März 2000 im Rahmen des eine Woche dauernden "Festival of Tibet", das von "Friends of Tibet", Mumbai, und dem Tibetischen Jugendkongreß organisiert wurde.

Inhalt
  1. Einleitung
  2. Das Wichtigste zuerst
  3. Indiens Politik
  4. Der vor uns liegende Weg
  5. Indiens Tibet
  6. Der 52. Staat der USA
  7. Schluß
Teil 1 In all den Jahren, in denen ich um die Welt reiste und über Tibet sprach, habe ich die Erfahrung gemacht, daß das Publikum überwiegend aus Leuten besteht, die sich für Tibet interessieren und schon eine ganze Menge darüber wissen. Bei vielen stellt sich heraus, daß sie alte Freunde und Experten für Tibet sind, weshalb meine Vorträge sehr oft so etwas wie ein "Predigen für die bereits Bekehrten" sind. Deshalb ist es unnötig und ein Zeitverlust, grundlegende Fakten über Tibet zu wiederholen. Nichtsdestoweniger muß man sich oft fragen, wie viele von den Zuhörern oder wie viele von den Lesern sich tatsächlich dessen bewußt sind, daß Tibet vor dem 23. Mai 1951 niemals seine Unabhängigkeit aufgegeben hat - dem Tag, als eine besiegte und niedergeschlagene tibetische Regierung zur Unterzeichnung eines ungleichen Vertrages, des sogenannten "Siebzehn-Punkte-Abkommens über die Schritte zur friedlichen Befreiung Tibets" gezwungen wurde. Deshalb entbehrt Chinas Anspruch, daß "Tibet schon immer ein Teil Chinas" gewesen sei, jeglicher Grundlage; in der Tat weist auch die tibetische Sprache in Wort und Schrift keinerlei Verwandtschaft mit dem Chinesischen auf. Tibet hat seine eigene Nationalflagge und Nationalhymne.

Während es stimmt, daß einige chinesische Dynastien sich bei gewissen Anlässen in tibetische Angelegenheiten einmischten, ist es ebenso wahr:

- daß verschiedene tibetische Könige und Herrscher in China einfielen oder anderweitig ihren Einfluß über chinesische Staatsgeschäfte geltend machten - so besetzten im Jahr 763 tibetische Truppen sogar Chang'an (das heutige Xian), die damalige chinesische Hauptstadt, setzten den chinesischen Kaiser ab, der den Tibetern nicht wohlwollend war, und ernannten den Sohn eines anderen Zweiges der Herrscherfamilie zum Kaiser,

- daß die traditionelle Grenze zwischen Tibet und China von dem Friedensvertrag von 821 markiert wurde, als beschlossen wurde, daß keines der zwei Länder jemals in die Angelegenheiten des anderen eingreifen wird, in der Meinung daß "Chinesen in dem Land China glücklich sein sollen, und Tibeter in dem Land Tibet glücklich sein sollen". Der Text dieses Vertrages, der diese alten Worte der Weisheit enthält, wurde in drei Steinstelen eingemeißelt, je eine Stele für die zwei Hauptstädte Lhasa und Chang'an und eine dritte Stele für die Grenze, die an einem Ort namens Gugu Meru aufgestellt wurde. Diese dritte Stele wurde bisher noch nicht gefunden. Aber die Texte der beiden anderen Stelen wurden von unabhängigen westlichen und tibetischen Gelehrten verglichen und als gleich befunden,

- daß lange, ehe die Mongolen 1279 die Yuan Dynastie in China gründeten, die Tibeter 1207 mit den Mongolen eine Tributbeziehung eingingen, wodurch sie eine militärische Invasion Chingis Khans abwendeten. Die Beziehungen der Mongolen mit Tibet wurden nicht nur vor deren Eroberung Chinas geknüpft, sondern es handelte sich um ein gänzlich separates Verhältnis. Die Mongolen betrachteten Tibet niemals als eine Provinz Chinas. Daher ist auch Chinas neugefaßter Anspruch, daß "Tibet seit der Herrschaft der Mongolen über China ein Teil Chinas gewesen sei", inhaltslos,

- daß Tibet während des Zweiten Weltkrieges als ein unabhängiges Land - besonders wichtig: von China, USA und Großbritannien - anerkannt wurde. Dies ist aus der Tatsache ersichtlich, daß die US Regierung 1943 eine Mission nach Lhasa schicken mußte, um die Regierung Tibets zu ersuchen, sie möge den Alliierten erlauben, militärische Hilfe durch Tibet zu schicken, um China in seinem Krieg gegen Japan zu unterstützen. Dies wäre natürlich nicht nötig gewesen, wenn, wie die Chinesen heute behaupten, "Tibet schon immer ein integraler Bestandteil Chinas" gewesen wäre. Als ein unabhängiges, den Prinzipien des Friedens verpflichtetes Land gestattete Tibet den Alliierten, humanitäre Hilfsgüter nach China zu senden, jedoch keine Kriegswaffen. In der Rückschau könnte man meinen, daß Tibet heute für sein prinzipielles Engagement für den Frieden und für seine Neutralität während des Krieges bestraft wird.

Viel mehr Beweise könnten noch beigebracht werden, daß Tibet vor der Invasion des kommunistischen China 1949 ein unabhängiges Land war. Für jedermann, der vernünftigen Argumenten zugänglich ist, sollten die obigen Tatsachen jedoch genügen.

Teil 2

Das Wichtigste zuerst

Ich gab diesem Artikel den Untertitel: "Ein Fall zur Überprüfung der Politik" und nicht "Der Fall für eine Politik Revision". Ich wählte diese unbeholfene Konstruktion aus einem bestimmten Grund. Wenn wir im allgemeinen über die Notwendigkeit eines neuen Konzeptes der Politik in Bezug auf Tibet reden, ist damit eine Überprüfung der indischen Tibet-Politik gemeint, oder in anderem Zusammenhang der Politik der Vereinten Nationen oder der Vereinigten Staaten unter anderen. Ich bin der Meinung, daß es in erster Linie das tibetische Volk, besonders die Tibetische Regierung-im-Exil ist, welche die sogenannte Politik des "Mittleren Weges" revidieren sollte. Diese Politik ist es, die dringend geändert werden muß, bevor wir andere Länder auffordern können, ihre Tibet-Politik zu überprüfen.

Zwanzig Jahre lang oder gar noch länger haben wir nun schon unser eigenes Volk und auch unsere Freunde verwirrt, indem wir zuerst darüber redeten, uns "mit Autonomie zufrieden zu geben" und dann darüber, "eine Assoziation mit China anzustreben" und jetzt "auf eine echte Autonomie innerhalb Chinas hinzuarbeiten". Natürlich muß noch einer kommen, der uns sagt, wer die Begriffe Assoziation oder Autonomie oder echt definieren wird. Unter den jetzigen Umständen kann man nur vermuten, daß es die Chinesen sein werden, weil sie alle Karten in der Hand haben. Wie die Dinge jetzt stehen, ist es sowieso absurd zu glauben, daß die Chinesen sich überhaupt um eine Definierung dieser Begriffe bemühen müßten.

Wenn wir von "Autonomie" reden, müssen wir berücksichtigen, daß, was die Chinesen angeht, die Tibeter in ihren Augen ja bereits "Autonomie" genießen. Die gestutzte Hälfte Tibets - die sogenannte Autonome Region Tibet, welche dem Rest der Welt heute als "Tibet" bekannt ist - wurde ebenso wie anderen Gebiete des tibetischen Territoriums von den Chinesen als "autonome Region", "autonomes Gebiet" oder sonst etwas etikettiert. Deshalb mögen sich die Chinesen wohl wundern, was dieses ganze Angebot der Akzeptierung von "Autonomie" bedeuten soll, wo "Autonomie" gerade das ist, was die Tibeter ihrer Meinung nach ja schon längst haben. Es stimmt natürlich, daß die sogenannte Autonomie, welche die Tibeter angeblich unter der chinesischen Herrschaft genießen, nur eine nominelle ist. Aber was für einen Grund haben wir zu glauben, daß die "echte Autonomie" der Zukunft - sollte es so eine jemals geben - von anderer Art sein wird?

Ein weiterer wichtiger Faktor in bezug auf "Autonomie", den man bedenken sollte, ist, daß die Menschen in Tibet die "Autonomie" mit chinesischen Charakteristiken satt haben und nichts mehr von ihr wissen wollen - niemals! Meine Überzeugung ist, daß die einzige Hoffnung für das tibetische Volk und das Überleben unserer Religion, unserer Kultur und unseres Landes die Wiederherstellung der tibetischen Unabhängigkeit ist. Meine Gründe dafür sind einfach und direkt.

1. Erstens bin ich der Ansicht, daß die wenigen Tibeter im Exil nicht das Mandat haben, das Ziel zu ändern. Als wir Tibet verließen, taten wir dies mit dem einzigen Ziel, den Kampf um die Unabhängigkeit weiterzuführen. Wir haben ebensowenig das Recht, die Optionen zukünftiger Generationen von Tibetern vorwegzunehmen.

2. Zweitens glaube ich, daß die strategischen, politischen und wirtschaftlichen Gründe der Chinesen für die Invasion Tibets viel zu gewichtig sind und daß sie niemals freiwillig auf ihre Gewalt über Tibet verzichten werden. Ganz gewiß lassen sie sich nicht dazu überreden, Tibet zu verlassen und Tibet in welcher Gestalt und Form auch immer dem tibetischen Volk zurückzugeben.

3. Es ist schön und gut, Verhandlungen mit China zu fordern, und ich glaube, daß die verschiedenen von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama den Chinesen unterbreiteten Vorschläge - insbesondere der Fünf-Punkte-Friedensplan - mit bester Absicht erfolgten. Das Problem ist, daß die kommunistische Diktatur in China auf keinen dieser Vorschläge positiv reagieren wird. Für diese ist Kompromiß nämlich ein Zeichen der Schwäche, und sie wird fortfahren, immer mehr Zugeständnisse zu erwarten und zu fordern.

4. Dazu kommt noch, daß China gegenwärtig überhaupt kein Bedürfnis empfindet, mit der Tibetischen Regierung-im-Exil zu verhandeln. In all diesen Jahren hat noch keiner diese eine simple Frage beantwortet: Warum sollten die Chinesen mit uns sprechen? Sie haben Tibet fest in ihrer Kontrolle. Keine Regierung der Welt hat den Mut, dies in Frage zu stellen. Wir stellen keine Bedrohung für ihre Position in Tibet dar. Warum sollten die Chinesen denn auch nur einen Teil ihrer kompletten, unbestrittenen und unangefochtenen Kontrolle über Tibet an uns abgeben?

5. Aber selbst, wenn das Unmögliche geschehen sollte und aus irgendeiner vorübergehenden Zweckdienlichkeit heraus China ein Abkommen mit uns schließen sollte, was für Gründe haben wir zu der Annahme, daß China sich auch an die Bedingungen solch eines Abkommens halten wird? Überhaupt keine! Unsere bittere und blutige Erfahrung ist, daß China sich niemals an die Bedingungen irgendeines Abkommens hält, sobald der Zweck, zu welchem es unterschrieben wurde, erfüllt ist. Genau das tat es nämlich mit dem sogenannten "17-Punkte-Abkommen".

Die Realität ist, daß China um Zeit zu gewinnen spielt, und wir in seine Hände spielen. Ehe wir daher Indien aufrufen, seine Tibet-Politik zu revidieren, und ehe wir erwarten können, daß Indien und die Welt uns unterstützen, ist es meiner Überzeugung nach absolut notwendig, daß wir Tibeter uns klar werden, was wir wollen. Dies gesagt habend möchte ich noch hinzufügen: Falls ich mich in dem düsteren Bild, das ich oben zeichnete, irre, wäre niemand glücklicher als ich! Tatsächlich hoffe und wünsche ich in schwächeren Augenblicken auch, unrecht zu haben und daß die Chinesen eines Tages - und möge es bald sein - zu dem Einsehen erwachen, daß sie unsägliche Grausamkeiten in Tibet begingen, daß sie vor allem kein Recht haben, in Tibet zu sein, daß das tibetische Volk sie dort nicht haben will, daß sie sich entschuldigen und aus Tibet abziehen. Aber dann erinnert mich die harte Realität unserer tragischen Vergangenheit und die noch härtere Realität der sich immer mehr verschlechternden Lage in Tibet daran, daß die Chinesen gar nicht vorhaben, Tibet zu verlassen, daß wir nicht einem Problem gegenüberstehen, das viele Optionen bietet, daß wir vielmehr mit einem Kampf ums Überleben konfrontiert sind - einem Kampf um Leben und Tod, wo es keine Wahl gibt. Das ist die brutale Realität, mit der sich das tibetische Volk und die tibetische Regierung abfinden müssen. Die Chinesen bieten uns keine Optionen. Es geht hier nicht darum, den "richtigen" Vorschlag mit der "richtigen" Formulierung anzubringen.

CHINA BRAUCHT DAS TIBETISCHE VOLK NICHT, CHINA BRAUCHT NUR TIBET.

Teil 3

Indiens Politik

Was die Tibet-Politik Indiens betrifft, möchte ich das Argument vorbringen, daß heutzutage Indien hinsichtlich der Zukunft Tibets mehr zu verlieren hat als das tibetische Volk selbst. Und daher sollte Indien seine Tibet-Politik revidieren, unabhängig davon, wofür sich das tibetische Volk entscheiden wird. Ich hoffe, es klingt nicht undankbar oder manipulierend oder provokativ, wenn ich so etwas sage.

Die Gründe für meine Meinung, daß für Indien, was die Zukunft Tibets betrifft, heutzutage mehr auf dem Spiel steht als für das tibetische Volk selbst, sind offen und einfach: Erstens, wird Tibet niemals frei sein, wenn nicht mehr an erster Stelle Freiheit für uns als unser Ziel steht. Abgesehen davon, wie sehr wir auch wünschen mögen, daß Tibet frei wird, wie sehr wir uns auch danach sehnen, Tibet frei zu sehen: Heute sehen wir uns der realen und unmittelbaren Gefahr gegenüber, daß die Tibeter als ein Volk und als eine eigenständige Kultur verschwinden! Nach dem Tod gibt es keinen Schmerz mehr und gewiß keine Notwendigkeit mehr für Freiheit oder für ein eigenes Land - besonders für ein Volk, das seine Toten an die Geier verfüttert. Von welchem Nutzen sind Umweltschutz oder Menschenrechte für die Toten?

Andererseits kann und wird Indien als eine Nation nicht verschwinden. Aber mit dem Tod Tibets wird Indien eine Wunde bekommen, die von Ladakh im Westen bis nach Arunachal im Osten reicht, eine Wunde, die sich über die ganze Himalaya-Kette erstreckt - etwa 2.500 km - und für die es keine Heilung gibt. Ich brauche nicht die weitreichenden Implikationen solch einer Wunde zu erörtern, die sich wie ein tödlicher Krebs immerdar in Indien hineinfressen wird. Schließlich hat Indien im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte schon einen Vorgeschmack dieser Wunde bekommen. Die Notwendigkeit, Indiens lange und schwierigen Grenzen zu Tibet zu verteidigen, stellt eine große Last für seine Wirtschaft und ein Hindernis für die sozio-ökonomische Entwicklung des Landes dar. Aus diesen und aus noch mehr Gründen kann ich einfach Indiens Tibet-Politik nicht begreifen.

Wenn es in Indiens Interesse läge, zu akzeptieren und einzugestehen, daß "Tibet eine autonome Region Chinas" ist (das nämlich ist Indiens Position zu dem Status Tibets seit Nehrus Zeiten), dann wird das für das tibetische Volk nicht weniger schmerzhaft, aber wenigstens wird es verständlich sein. Schließlich ist Außenpolitik nicht bloß die "Kunst des Möglichen", Außenpolitik wird auf der Basis des nationalen Eigeninteresses gemacht - oder zumindest nach dem, was als nationales Eigeninteresse wahrgenommen wird. Daß solche Wahrnehmungen oft irrig und falsch sind, ist eine ganz andere Sache.

Teil 4

Der vor uns liegende Weg

Vor uns liegen nun zwei Probleme. Das eine ist, daß das tibetische Volk eine klare Entscheidung über sein Ziel und seinen Kampf treffen muß. Das zweite ist, daß das indische Volk eine feste und klare Entscheidung über Indiens langfristige Interessen in bezug auf Tibet treffen muß. Wenn Indien entscheidet, daß es in Indiens Interesse liegt, Tibet frei zu sehen, dann ist der nächste Schritt, daß wir zusammen entscheiden, was wir zu unserem gegenseitigen Vorteil zu tun gewillt sind. Das soll heißen, daß die Tibeter aufhören sollten, nur passiv um Hilfe zu rufen. Gleichzeitig muß Indien aufhören, nur das tibetische Volk einfach zu bemitleiden. Indien muß eine aktive Partnerschaft mit den Tibetern eingehen. Und dabei muß auf beiden Seiten Klarheit darüber bestehen, daß kurzfristig gesehen ein großer Preis zu zahlen und enorme Opfer zu bringen sind. Was immer jedoch die Schwierigkeiten sind, dürfen wir zwei Dinge nie aus den Augen verlieren: daß die langfristigen Belohnungen von bleibender Dauer sein werden und jedes Opfer wert sind; und wichtiger noch, daß der Kampf um die Unabhängigkeit Tibets niemals aufgegeben werden darf, weil es letztendlich eine Frage von Recht und Unrecht ist. Der Sieg ist wichtig, aber zweitrangig gegenüber der Tatsache, daß wir für die Wiederherstellung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit gegen ein Übel kämpfen.

Andererseits: Wenn Indien als Resultat einer sachkundigen nationalen Debatte entscheiden sollte, daß es tatsächlich auf lange Sicht gesehen im Interesse Indiens liegt, China und nicht Tibet als seinen nördlichen Nachbarn zu haben - dann sei dem so! Ich jedenfalls werde nach Tibet zurückkehren. Als Junge gelobte ich mir: Wenn ich durch Widmung meines ganzen Lebens für den Freiheitskampf mein Land nicht aus den Klauen der Chinesen befreien kann, dann will ich zumindest in Tibet sterben!

Natürlich werde ich niemals meine Dankbarkeit Indien gegenüber vergessen. Das tibetische Volk ist Indien für alle Zeiten aus zwei Gründen zu Dank verpflichtet: in der Vergangenheit für das Dharma und heute für das Asyl. Aber das Problem ist, daß es zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Indien einfach nicht genügend Wissen über die Ereignisse und Entwicklungen in Tibet und ihre Implikationen für Indien gibt, damit das indische Volk eine gut unterrichtete Entscheidung über diese wichtige und schwierige Frage treffen könnte. Ich bin mir bewußt, daß Indien viele andere drückende Probleme hat, um die es sich sorgen muß - von der Armut und Grunderziehung bis zu Kashmir und Pakistan. Doch ist es nicht genug, sich auf diese Probleme alleine zu konzentrieren. Nehmen wir den Fall einer Person, die an einer schweren Krankheit leidet und infolgedessen hohes Fieber hat. Würde es genügen, sich nur um das Fieber zu kümmern und sich auf die Senkung der Temperatur zu konzentrieren? Wäre es nicht wichtiger, auch zu versuchen, die Krankheit selbst zu heilen? Indiens derzeitige wirtschaftliche Probleme stehen eng im Zusammenhang mit den riesigen Kosten für die Verteidigung der langen und unruhigen Grenze zu Tibet. Sogar bei dem dornigen Problem Kashmir und Pakistan ist es ein offenes Geheimnis, daß China Pakistan mit Waffen, militärischem Know-how und Geldmitteln versorgt. Ohne Chinas Kontrolle über Tibet wird die Logistik der Waffenlieferung an Pakistan ein ganz anderes Problem bieten. Ein Blick auf jede Landkarte genügt, um zu sehen, daß der Karakorum Highway nach Pakistan durch Tibet verläuft. Noch wichtiger ist, daß, wenn China keine Kontrolle über Tibet mehr ausübt, seine Hilfeleistung an Pakistan keine Priorität mehr haben wird. Der Grad der Unwissenheit und des mangelnden Verständnisses für Tibet bei den Indern wurde anläßlich der Flucht des 17. Karmapa nach Indien deutlich. Es war schmerzlich für uns, in gewissen Sparten der indischen Presse Berichte und Briefe zu lesen, die zu verstehen gaben, die tibetischen Flüchtlinge in Indien stellten eine Belastung und ein Sicherheitsrisiko für Indien dar. Es scheint immer noch Stimmen zu geben, wonach die Anwesenheit des 17. Karmapa ein Hemmschuh für Indiens Beziehungen zu China ist.

Die strategische Bedeutung Tibets für Indien auf lange Sicht gesehen sollte sogar für jene deutlich sein, die alles auf dem Altar der "Freundschaft mit China" opfern wollen. Die Anwesenheit Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, die tibetische Regierung-im-Exil und in geringerem Maße die ganze tibetische Flüchtlingsgemeinde stellen zu allermindest einen Verhandlungsfaktor dar, den Indien in seinen Geschäften mit China einsetzen kann. Dasselbe trifft nun auf eine so prominente Persönlichkeit wie den 17. Karmapa zu. Selbst was einzelne tibetische Flüchtlinge betrifft, ist nicht bekannt und wird daher auch nicht geschätzt, daß in all den Kriegen, die Indien focht, seit die Tibeter Zuflucht in Indien suchten, tibetisches Blut zusammen mit dem der tapfersten Söhne Indiens vergossen wurde. Wir reden gerne über unbesungene Helden. Jene Tibeter sind die wahren, nicht anerkannten und unbesungenen Helden. Und doch fahren sie fort, für Indien zu kämpfen und zu sterben, weil sie glauben, daß es ebenso im Interesse ihres geliebten Tibets wie ihres Gastlandes ist, weiterhin in den Streitkräften zu dienen. Diese tapferen Männer und Frauen, und ebenso ihre Familien und Lieben, glauben zusammen mit dem Rest der tibetischen Flüchtlingsgemeinde, daß es nur ein Geringes ist, wenn sie die Sicherheit Indiens verteidigen, um ihre Dankbarkeit Indien gegenüber auszudrücken.

Teil 5

Indiens Tibet

Schließlich noch ein paar Worte zu der Überschrift dieses Artikels. Bisher habe ich nur über den Untertitel gesprochen, der von Revidierung der Politik handelt, ohne ein Wort darüber zu sagen, was ich damit meine, wenn ich Tibet als "Indiens Tibet" bezeichne. Es gibt ein chinesisches Propagandamagazin das "Chinas Tibet" heißt. Dies ist ein deutliches Beispiel dafür, wie unsicher China sich fühlt, nicht nur was seine Macht über Tibet betrifft, sondern wesentlicher noch, was seine Rechte auf Tibet anbelangt. Fünfzig Jahre nach der Invasion, 40 Jahre nach der Flucht des Dalai Lama und der tibetischen Regierung, mit schätzungsweise einer halben Million Streitkräfte in Tibet und keiner einzigen ausländischen Regierung, die offen Chinas militärische und koloniale Besetzung Tibets in Frage stellt - ist es in der Tat aufschlußreich, daß China immer noch die Notwendigkeit verspürt, von "Chinas Tibet" reden zu müssen. Abgesehen von dem Versuch, sich selbst zu vergewissern, ist dies zweifellos in erster Linie eine Bemühung, die Welt davon zu überzeugen, daß Tibet zu China "gehört". Meiner Meinung nach hat es genau die entgegengesetzte Wirkung.

Sei dem, wie es mag. Ich habe mich oft gefragt, warum Indien sein Anrecht auf Tibet nicht geltend macht. Von China, welches das tibetische Volk und die tibetische Religion und Kultur auszumerzen versucht, und von Indien, welches Tibet das Buddha Dharma schenkte und nun hilft, die tibetische Religion und Kultur zu retten, besitzt ohne Zweifel Indien den größeren Anspruch. Es ist wie die Geschichte des jungen Prinzen Siddhartha, der den Schwan rettet, den sein Vetter Prinz Devadatta geschossen hat. Der Anspruch des letzteren beruht darauf, daß er den Schwan geschossen hat. Auf der anderen Seite setzte Prinz Siddhartha, der zukünftige Buddha, seinen Anspruch darauf, daß er das Leben des verwundeten Schwans gerettet hat. Der König spricht zu Recht Prinz Siddhartha den Schwan zu. In der heutigen Welt der Realpolitik und rückgratlosen Weltpolitiker können wir kaum auf so einen ausschlaggebenden Schiedsspruch hoffen. Trotzdem: Auch wenn es nur eine diplomatische Übung wäre, warum erhebt Indien keine Klage bei dem Internationalen Gerichtshof und bringt es nicht die Sache in der UNO zur Sprache, um seinen Anspruch auf Tibet geltend zu machen? Zuvorderst war es Indien, das Tibet den Buddhismus, die Lebenskraft des tibetischen Lebens und der tibetischen Kultur, schenkte. Heute leistet Indien ausschlaggebende Hilfe, um die tibetische Religion und Kultur zu retten. Wenn Tibet schon einem seiner Riesennachbarn angehören muß, dann sollte es doch Indien sein, das zur Rettung Tibets beiträgt, und nicht China, das Tibet zu zerstören sucht.

Teil 6

Der 52. Staat der USA

Selbst wenn wir seitens des tibetischen Volkes entscheiden, daß Unabhängigkeit für Tibet nicht erreichbar ist (das ist der gegenwärtige Standpunkt der tibetischen Regierung-im-Exil, gegen den ich total bin) und daß unsere einzige Option ist, uns mit irgendeiner Form von Autonomie - wie echt oder falsch auch immer sie sein mag - zufriedenzugeben, warum beschließen wir dann nicht lieber, ein Teil Indiens zu werden? Unter irgendeiner gegebenen Situation oder einem vorstellbaren Szenario würde es Tibet doch viel besser unter Indien als unter China gehen.

Jene, die keine Entscheidungen treffen wollen, besonders keine so außergewöhnliche wie diese, werden gewißlich schnell dabei sein, zu erklären, daß die Lage zu verwickelt sei; daß so etwas für die Regierung Indiens nicht akzeptabel sein könnte und (zur Abwechslung auch), daß solch eine Entscheidung selbst für die Mehrheit unserer Leute in Tibet nicht annehmbar wäre usw... Aber wir haben noch andere Optionen. Wir könnten darum bitten, uns den Vereinigten Staaten anzuschließen und Tibet zum 52. Staat der USA erklären. Und ich kann mir nicht vorstellen, welche Einwände gegen solch eine Idee vorgebracht werden. Es ist kaum ein Geheimnis, daß fast alle Tibeter im Exil - von den hohen Vertretern der tibetischen Regierung bis zu den niedrigsten und arbeitslosen Tibetern, von den hohen Lamas bis zu den jungen Novizen - alle lautstark verlangen, auf irgendeine Art und Weise in die USA auszuwandern.

Wenn es auch sonst nichts bewirkte, Tibet zu einem Teil der USA zu erklären, würde es dem amerikanischen Präsidenten und dem State Department die heftigen Kopfschmerzen verursachen, die sie so sehr verdienen. Aber es könnte auch mehr als ein Kopfschmerz werden. Es könnte zu einem wirklichen Querschuß werden und bedeuten, daß die USA und China nicht mehr in der Lage sind, Tibet bei ihren bilateralen Beziehungen zu ignorieren und Amerikaner und Tibeter als "Spalter" zu bezeichnen (Chinas Lieblings Schimpfname für den Dalai Lama und den amerikanischen Präsidenten), hätte dann schließlich eine gewisse Berechtigung!

Teil 7

Schluss

Was allerdings mich angeht, so muß der Kampf um die tibetische Unabhängigkeit weitergehen. Immer wenn die Frage nach unserem Ziel - oder vielmehr dem Fehlen eines Ziels - aufgeworfen wird, bekomme ich immer wieder zu hören, daß jeder Tibeter Unabhängigkeit wünscht. Warum dann ist Unabhängigkeit nicht unser Ziel? Ich bin mir nicht sicher, daß "jeder" Tibeter die Unabhängigkeit will. Aber ich weiß, daß dies auf die große Mehrheit zutrifft, insbesondere auf jene Menschen in Tibet, die weiterhin in ihrem Kampf gegen die chinesische Herrschaft leiden und sterben. Aber so lange wir schweigen, werden wir nicht gehört werden, so groß diese Mehrheit auch sein mag.

Ich appelliere daher an jeden einzelnen Tibeter, der an die Unabhängigkeit glaubt und der im Exil lebt, unserer Regierung und dem Publikum im allgemeinen seine Ansichten und seine Empfindungen mitzuteilen. Ich appelliere auch an die tibetische Regierung, das Andenken an all unsere Patrioten, die ihr Leben im Kampf um die tibetische Unabhängigkeit niederlegten, zu ehren und dem Empfinden der großen Mehrheit unseres Volkes in Tibet Beachtung zu schenken, die weiterhin das größte Risiko auf sich nehmen, wenn sie gegen die chinesische Herrschaft protestieren. Die tibetische Regierung-im-Exil hat selbst gesagt, daß schon über eine Million und zweihunderttausend Tibeter - das entspricht ganzen 20% unserer Bevölkerung - als eine direkte Folge der chinesischen Invasion und Okkupation Tibets gestorben sind. Wie lange noch will unsere Regierung so tun, als ob sie nicht weiß, was das tibetische Volk will? Kann denn jemand noch deutlicher wählen, als mit seinem Leben? Oder besitzt unsere Regierung Beweise, um zu zeigen, daß diese Leute ihr Leben hingaben, um Tibet zu einem Teil Chinas zu machen?

Ebenso oft wurde mir von Freunden und Tibet-Unterstützern gesagt, daß sie meiner Analyse zustimmen, daß China nur um Zeit zu gewinnen spielt; daß wir nichts von China erwarten können, und daß sie auch glauben, daß der einzige Weg nach vorne für das tibetische Volk der Kampf um die Unabhängigkeit ist. Ich kann nicht bestätigen, wie viele dies aus Überzeugung sagen, und wie viele nur, um meine Gefühle nicht zu verletzen. Ich appelliere an alle unsere Freunde, die an die Unabhängigkeit glauben, bitte ihre Gefühle und ihre Beweggründe der tibetischen Exilregierung mitzuteilen. Es ist gut möglich, daß die Meinungen unserer Freunde bei unserer Regierung mehr Gewicht haben als die Wünsche und das Leben des tibetischen Volkes.

2. Mai 2000, Lhasang Tsering
Exile House, P.O. McLeod Ganj 176 219, Dharamsala, HP, India

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